
Arbeitsformen, die heute als exotisch gelten, werden sich etablieren
Die Bürokultur hat sich in den letzten Jahren rasant verändert. Globalisierung, Digitalisierung und zuletzt Corona haben mobiles Arbeiten gefördert, aber auch für eine stärkere Vermischung von Arbeit und Freizeit gesorgt. Digitalexpertin Dr. Sarah Genner erklärt im Interview, wohin die Reise geht und wie wir als Mitarbeitende und Vorgesetzte konstruktiv mit dem steten Wandel umgehen können.
Frau Genner, mögen Sie persönlich Veränderungen?
Das kommt auf die Veränderung an. (lacht) Ich halte es wie das Künstlerduo Fischli/Weiss in seinem bekannten Werk «How to Work Better», in dem es heisst: «Accept change as inevitable.» Wer anerkennt, dass Veränderungen unvermeidbar sind, lebt besser damit.
Können Sie uns ein Beispiel für eine grössere berufliche Entwicklung von Ihnen geben?
Ich habe mich selbstständig gemacht. Der Vorteil: Ich habe keine Vorgesetzten mehr. Der Nachteil: Ich bin meine eigene Vorgesetzte.
Viele Mitarbeitende haben Mühe mit ständigen Changeprozessen im Unternehmen. Was ist daran falsch?
Daran ist nichts falsch. Veränderungen bringen Unsicherheit. Unsicherheit auszuhalten ist emotional oft nicht leicht. Die Kunst ist, aus den unvermeidbaren Veränderungen das Beste zu machen oder zumindest die positiven Aspekte einer Veränderung mehr im Blick zu haben als ihre Nachteile.
Warum muss sich unsere Arbeitswelt kontinuierlich entwickeln?
Zeit ist Geld, daher ist Beschleunigung ein geschäftlicher Anreiz. Technologie und neue Prozesse bergen das süsse Versprechen von Beschleunigung. Diese Logik enthält in sich Veränderung und Entwicklung.
Studien zeigen, dass Menschen, die persönlich grosse Veränderungen zugelassen haben, danach glücklicher waren. Wie können Unternehmen Veränderungsprozesse so gestalten, dass sie damit ihre Mitarbeitenden glücklicher oder zufriedener machen?
Das ist die grosse Kunst von Changemanagement und guter Führung. Es zeigt sich, dass Menschen Veränderungen zunächst oft kritisch gegenüberstehen, manchmal sogar regelrecht schockiert davon sind. Nach einem emotionalen Tal folgt jedoch die Akzeptanzphase. Gute Führungskräfte holen Mitarbeitende in Veränderungsprozessen auch emotional ab. Genauso wichtig ist es, Mitarbeitende ins Boot zu holen bei der Frage, warum eine Veränderung nötig ist. Wer nur ankündigt, was und wie verändert werden soll, und nicht genügend Zeit investiert, das Warum zu erklären, erntet in der Regel viel weniger Akzeptanz.
Digitalisierung, Globalisierung und neue Technologien haben in den letzten Jahren für einen fundamentalen Wandel der Bürokultur gesorgt: Können Sie uns einen Überblick über die wichtigsten Veränderungen geben?
Den fundamentalsten Einschnitt sehe ich in der Kombination von webfähigen mobilen Geräten und Cloud-Technologie, die in fast allen Bürojobs ermöglicht, mobil-flexibel zu arbeiten. Diese Zeit- und Ortsunabhängigkeit war früher nur wenigen Berufsgruppen zugänglich. Das bedeutet, dass Homeoffice deutlich populärer geworden ist, dass mehr von unterwegs gearbeitet wird, dass sich Arbeits- und Freizeit zunehmend vermischen und wir lernen müssen, mit ständiger digitaler Erreichbarkeit sinnvoll umzugehen. Büros werden umgestaltet und fixe Arbeitsplätze oft aufgehoben. Für die einen Persönlichkeitstypen ist die Flexibilisierung eine grosse Erleichterung, für andere fehlen zeitliche und räumliche Grenzen, die sie sich neu erarbeiten müssen.
Wo geht aus Ihrer Sicht die Reise hin: Welche Arbeitsmodelle werden in zehn Jahren von Bedeutung sein?
Ich gehe davon aus, dass sich in zehn Jahren Arbeitsformen, die noch als etwas exotisch gelten, etabliert haben werden: digitales Nomadentum, hybride Meetings, Co-Working. Dennoch vermute ich, dass Nine-to-five-Bürojobs mit ein bis zwei Tagen Homeoffice für die Mehrheit Standard bleiben werden.
Was bedeutet dieser Wandel für die Kompetenzen von Mitarbeitenden – welche Fähigkeiten gewinnen künftig an Bedeutung?
Die Anforderungen an die Selbststeuerung steigen mit zunehmender Flexibilisierung. Prioritäten setzen können ist eine zentrale Kompetenz, sich von permanenten digitalen Ablenkungen abschirmen zu können, ist wichtig. Ebenfalls zentral: auf die eigene Gesundheit und genügend Ausgleich achten und lernen, sich abzugrenzen.
Und wie sieht es diesbezüglich bei den Vorgesetzten aus?
Vorgesetzte verlieren in mobil-flexiblen Arbeitskontexten den täglichen physischen Kontakt mit ihren Mitarbeitenden. Damit entgleitet ihnen ein Stück Kontrolle. Es wird noch wichtiger, dass Vorgesetzte über Motivation, Ziele und Vertrauen führen können. Die Vorbildfunktion war und bleibt zentral. Viele Vorgesetzte sind sich im Umgang mit E-Mails und Co. nicht im Klaren darüber, was es auslöst, wenn sie Mitarbeitenden aus ihrem Urlaub schreiben.
Digitalisierung und Remote Work sind eine Herausforderung für die Betriebskultur. Wie können es Unternehmen schaffen, Zusammenhalt und Teamgeist aufrechtzuerhalten?
Teambuilding und gemeinsame Werte sind jetzt noch wichtiger geworden.
Das mobile Arbeiten hat dazu geführt, dass Mitarbeitende ständig digital erreichbar sind. Können Sie Tipps geben, wie man sich besser abgrenzt?
Zunächst muss man die eigenen Prioritäten kennen – persönliche und berufliche – und diese ernst nehmen. Das bedeutet, dass man lernen muss, Nein zu sagen, um zu dem Ja zu sagen, was einem wirklich wichtig ist. Man muss lernen, sich nicht zu viel aufzuladen und die eigene Freizeit und Erholungszeit konsequent zu schützen. Manchmal hilft es, berufliche Apps in den Ferien zu löschen oder gar nicht auf das private Handy zu laden. Ich nutze konsequent ein Auto-Reply, denn: Wir können andere trainieren. Wer trotz Abwesenheitsmeldung Anwesenheit signalisiert, wird im nächsten Urlaub womöglich wieder kontaktiert.
Während der Coronazeit sah es so aus, als habe das klassische Büro ausgedient. Nun legen viele Firmen Wert darauf, dass ihre Angestellten ins Office zurückkehren. Welchen Stellenwert hat das Büro – heute und morgen?
Ich habe den Eindruck, dass sich hier verschiedene Modelle parallel entwickeln. Die einen Organisationen werden eine starke Präsenzkultur pflegen. Andere werden ihren Mitarbeitenden die maximale Flexibilität gewähren. Und dritte erarbeiten auf Teamebene eine Hybrid Work Charta, in der sie regeln, wie, wann und wo das jeweilige Team zusammenarbeitet.
Wie muss das Büro der Zukunft gestaltet sein, damit Mitarbeitende und Teams bestmögliche Leistungen erbringen können?
Eine ansprechende Bürogestaltung ist sicher motivierend. Wertvoll ist es aus meiner Sicht auch, wenn individuelle Lösungen gefunden werden können, da Mitarbeitende unterschiedliche Bedürfnisse haben. Vermutlich noch zentraler für bestmögliche Leistungen ist eine menschlich wertschätzende Atmosphäre mit einem Team und Vorgesetzten, welche die eigenen Leistungen anerkennen und würdigen.
Zur Person
Dr. Sarah Genner forschte und lehrte zur Nutzung digitaler Medien und zur Digitalisierung in der Arbeitswelt. Ihre Dissertation über gesellschaftliche und psychologische Auswirkungen des mobilen Internets gewann den Mercator Award der Universität Zürich. Während eines Jahres war sie Gastforscherin am Berkman Klein Center for Internet and Society der Harvard University. Seit 2018 ist sie selbstständige Expertin und Beraterin rund um Themen der digitalen Transformation, Keynote-Speakerin, zweifache Verwaltungsrätin und Dozentin an verschiedenen Hochschulen und Universitäten.
